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DEM TUMOR DIE MASKE VOM GESICHT REISSEN



Was Hirntumorforschung und Kriminalromane gemeinsam haben

Von Sherlock Holmes über düstere Schwedenkrimis bis zum Tatort am Sonntagabend – wohl jeder hat schon einmal einen Thriller genossen und gerätselt, wer wohl der Täter sein könnte. Krimis sind große Verkaufsschlager, obwohl (oder vielleicht gerade weil) sie häufig einen ähnlichen Aufbau haben. Ein Verbrechen wird begangen, und zuerst einmal kommen verschiedene Täter in Frage. Mit Hilfe von Logik, kluger Ermittlung und Hightech-Überwachungstechnik versucht das Ermittlungsteam, das Verhalten des Täters vorauszuahnen. Am Ende gelingt es dem Kommissar, den Schuldigen zu enttarnen – und oft ist man überrascht, weil es wieder der unauffälligste aller Charaktere gewesen zu sein scheint! Nun fragen Sie sich vielleicht, was genau das denn bitte mit Hirntumorforschung zu tun hat? Auf den ersten Blick zugegebenermaßen nicht viel, aber wenn man genauer hinsieht, ergeben sich einige Parallelen:

Ein Kind wird aufgrund von Symptomen, beispielsweise starken Kopfschmerzen oder einem epileptischen Anfall, in einer Klinik untersucht. Auf einem Scan wird ein Hirntumor entdeckt, der die Beschwerden erklärt.

Aber in diesem Moment wissen die Ärzte meist noch nicht, was genau sie da sehen – es gibt mehrere „Verdächtige“. Nun folgt im Normalfall eine Operation oder zumindest Gewebeentnahme, und der Tumor wird unter dem Mikroskop begutachtet. Jetzt ist der Verdächtige scheinbar identifiziert, und anhand von bestimmten Merkmalen kann man Rückschlüsse ziehen, wie sich der Tumor in der Zukunft wohl verhalten wird. Dabei gibt es aber eine Schwierigkeit: Genauso, wie sich viele Täter im Krimi nicht so verhalten, wie die Polizei das erwartet hatte, sind auch Hirntumore unberechenbar. Einige sehen unter dem Mikroskop harmlos aus, erweisen sich dann aber als kaum zu behandeln. Andere scheinen hochaggressiv zu sein, sprechen dann aber hervorragend auf die Behandlung an. Diese Unsicherheit ist ein großes Problem, denn die Konsequenz ist, dass einige Kinder nicht so intensiv behandelt werden, wie das wahrscheinlich notwendig wäre, andere aber eine viel stärkere Therapie bekommen, als sie eigentlich bräuchten. Eine Tumorart, für die das ganz besonders zutrifft, sind sogenannte Ependymome. Diese Tumore können überall im Gehirn oder Rückenmark auftreten und entwickeln sich aus einer frühen Vorläuferform von Versorgerzellen, die normalerweise die Nervenzellen bei der Arbeit unterstützen. Ependymome sind ein Fokus unserer gemeinsamen Arbeit in Kristian Pajtlers Forschungsgruppe am KiTZ, und die Diagnosestellung dieser Tumore zu verbessern, ist eines unserer wichtigsten Projekte. Dafür kommen Methoden der sogenannten „molekulare Diagnostik“ zur Anwendung.

Wie schon erwähnt beruht die klassische Diagnosestellung bei Hirntumoren darauf, den Tumor unter dem Mikroskop zu untersuchen. Die molekulare Diagnostik geht einen anderen Weg: stattdessen wird der genetische Code des Tumors, die DNA, untersucht. Dabei gibt es sehr viele verschiedene Aspekte, die interessant sind. Man kann beispielweise analysieren, welche Mutationen in einem Tumor zu finden sind.

Aber in der Hirntumorforschung ist der sogenannten Methylierungsstatus von besonderer Bedeutung. Hierbei handelt es sich um kleine chemische Fähnchen, die an bestimmten Stellen der DNA befestigt sind und der Zelle sagen, welche Teile des genetischen Codes sie ablesen soll – man kann sich die Methylierungen also ein wenig wie Lesezeichen vorstellen. Auf jedem DNA-Molekül sind Millionen dieser kleinen Fähnchen befestigt, und interessanterweise können diese Muster sehr unterschiedlich sein. Tumore, die unter dem Mikroskop ähnlich aussehen, zeigen häufig völlig verschiedene Anordnungen ihrer „Methylierungsfähnchen“. Und dieses Muster bleibt auch erhalten, wenn der Tumor wächst und sich entwickelt und sogar dann, wenn es zu einem erneuten Auftreten des Tumors kommt.

Mit Hilfe von modernsten Methoden kann man den Methylierungsstatus für hunderttausende Stellen auf der DNA innerhalb weniger Tage feststellen. Diese Information wird dann für hunderte oder gar tausende Tumoren durch Algorithmen verglichen, und auf dieser Basis werden die Tumore dann in Gruppen eingeteilt. Diese Form der Klassifikation – die übrigens von Wissenschaftlern des KiTZ, des DKFZs und der Universität Heidelberg federführend entwickelt wurde - stellt eine Revolution in der Hirntumorforschung dar und hat in den letzten Jahren zur Identifizierung dutzender neuer Tumorarten geführt. Wir konnten unter anderem mehrere neue Unterformen von Ependymomen entdecken, die sich in ihrer Prognose sehr unterscheiden.

Tumore, die scheinbar gleich aussehen, können nun sehr viel besser eingeteilt werden. Schon 2015 konnte eine große internationale Studie, geleitet von Wissenschaftlern am KiTZ, zeigen, dass die Einteilung von Ependymomen anhand ihrer Methylierungsmuster den Verlauf der Erkrankung besser vorhersagt als auf Basis des Aussehens unter dem Mikroskop. Darauf aufbauend konnten in den letzten Jahren für viele dieser neuen Tumorgruppen identifiziert werden, welche Veränderungen in der DNA für die Entstehung und das Wachstum der Krebszellen notwendig sind. Für bestimmte Formen von Ependymomen wurden beispielsweise Fusionen aus zwei Genen, die normalerweise nicht zusammengehören, als mögliche Ursache für die Krebsentstehung entdeckt.

Andere Ependymome werden davon angetrieben, ein bestimmtes, wachstumsförderndes Gen viel zu oft zu kopieren und abzulesen. Auf der Basis der molekularen Diagnostik ist es also nicht nur möglich, Patienten mit Hirntumoren präzisere Prognosen ihres Krankheitsverlaufes zu geben und ihre Therapien besser zu planen, sondern auch, ganz neue Ansätze für die Entwicklung innovativer Medikamente für die einzelnen Untergruppen zu entwickeln. Mittlerweile ist die Klassifikation mittels Methylierungsmustern weltweit so akzeptiert, dass sie bereits in die offiziellen Empfehlungen zur Einteilung von Hirntumoren der Weltgesundheitsbehörde WHO aufgenommen wurde.

Damit kommen wir schlussendlich wieder zurück zum Kriminalroman:

Um einen Täter zu fassen, braucht die Polizei ein gutes Täterprofil. Sie muss wissen, was ihn antreibt, wo er wohl als nächstes zuschlagen wird, und wie man ihn vielleicht in die Falle locken könnte. Und genauso müssen Wissenschaftler und Ärzte einem Tumor erst die Maske vom Gesicht reißen, um ihn schlussendlich stoppen zu können. Und wie ich aus eigener Erfahrung sagen kann, ist diese „Ermittlungsarbeit“ mindestens so spannend, wie die besten Kriminalromane!

David R. Ghasemi

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